Irene Sieben Tanz Magazin November 2014
Meg Stuart und Sasha Waltz, Auge in Auge: Sahen wir je zuvor, dass eine ihre Chinos fallenlässt und sie der anderen hinüberwirft? Wie eine der anderen folgt beim Tausch der
Slips, Shirts, Duftnoten? Haben wir je beobachtet, wie sie die Blicke eines aufgekratzten Publikums aufs nackte Fleisch aushalten? Minuten später stehen beide noch immer
Front zu Front, aber jeweils im Outfit der anderen, bevor sie in radikalem Clinch zur Sache kommen. Beide lieben die harte Konfrontation, den energetischen Zugriff, die Power
kraftvoller Unverhofftheit. Das ist nicht ohne Komik, wenn die Choreografinnen, hier als Performerinnen tätig, herumjagen, wenn Meg, die notorisch Scheue, Sasha kopfüber hängen lässt und nicht weiß, wie sie sie wieder loswerden soll. Ästhetisch trennen die Werke der beiden Weiten, Was sie verbindet, ist offenbar mehr als Kleidergröße, Alter, Mutterschaft und Prominenz. Gefüttert mit dem Wurzelsaft aus der Sippe der New Yorker Judson Church schöpfen sie aus der gleichen Quelle: Improvisation und ReleaseTechniken, wie sie in den Schulen neuer Tanzentwicklung in Amsterdam und Arnheim kultiviert wurden, wo sie sich 1986 begegneten.
Sasha hatte in Kompanien von Lisa Kraus, Yoshiko Chuma und Mark Tompkins getanzt
und mit Meg ein Apartment geteilt, die wiederum mit Randy Warshaw tourte und mit ihm in Holland lehrend unterwegs war. Einer der Fixsterne jener Tage war Trisha Brown, in deren Truppe in den 1980er-Jahren nicht nur Lisa Kraus und Randy, sondern auch Eva Karczag tanzte: In vollendeter Anmut sah man besonders sie in «Set and Reset» und «Opal Loop» durch lichtdurchflutete Räume schweben, Kleists Marionettenideal nahe. Dass nun Eva mit Yoshiko Chuma, Mark Tompkins, Meg Stuart und Sasha Waltz drei Nächte lang ein hochkarätiges Klassentreffen feierte, hat Peter Pleyer angeleiert. Als Netzwerker zwischen den Tanzwelten selbst Teil der Post-Judson-Strömung der 1980er- und 1990er-Jahre, holte er die Sophiensaele für drei Kick-Off-Tage seines Projekts «Visible Undercurrent» mit ins Boot. Fünf Tänzer der neuen Generation – mit dem Virus der Post-Avantgarde infiziert – erarbeiten mit ihm nun ein Stück, das Mitte November im Dialog mit dem Erbe den Zeitgeist erkunden wird. Entscheidend für Pleyer war „herauszufinden, welche Scores, Methoden, Ästhetinnen für die Jungen heute noch interessant und inspirierend sind
Über Improvisation als wichtigste Quelle schöpferischer Erleuchtung und Performance-Praxis sind sich auf knautschigen Sofas alle einig. Das wächst sich zum Budenzauber aus, wie ihn Jeremy Wade mit Mark Tompkins nach den ersten Talks über Tanzentwicklung und -politik entfacht: mit Qualm, Flittergewitter und Kostümplunder toben sich beide als Chamäleons aus – wie Kinder im Faschingsrausch. Wade, der hier jüngste Amsterdam-Absolvent. formuliert es so: «Was wir erleben, ist ein bisschen wie Sichverlieben. Man gerät so außer sich, dass man glaubt, alles sei möglich – und für einen Moment scheit es so. Man weiss nicht genau was geschieht, aber man öffnet sich diesem Nichtwissen. Es ist der Grundstoff des Lebens, wir melken ihn tüchtig, die Hände am Euter, ziehen und pressen.“ Dieses Nichtwissen bis zum Kollaps muss ausgehalten werden. Den zarten, zerbrechlichen Tompkins treibt es am letzten Abend in einen Zwiegesang mit Gott über die Frage, wann er ihn wohl rufen werde. Der Song zerreisst einem schier das Herz.
Ähnlich ergreifend, als Yoshiko Chuma ihr Schattenboxen in dem von ihr favorisierten «unsichtbaren Raum» jäh unterbricht, um die Entertainerin im Publikum um einen Song zu bitten. Gayle antwortet ihrer Company-Chefin von einst prompt mit Ella Fitzgeralds «You Brought a New Kind of Love to Me», und ihre voluminöse Jazzstimme breitet sich im Hochzeitssaal selbst ohne Mikro wie Balsam aus. Das beflügelt den Wunsch, dass auch ihre Vergangenheit als Performerin der Tanzfabrik nicht vergessen werde, so wenig wie die von Ka Rustier und Annette Klar im Zuschauerabseits, die einst in Berlins Post-Judson-Küche Wesentliches kreierten.
Peter Pleyer gibt am Rand des Spielfelds plaudernd Yoshiko Chumas Haar Volumen, während Meg Stuart Zeiten heraufbeschwört, als Peter ihr, der Newcomerin an der Spree, beim Haircut die Berliner Szene verklickerte.
Eva Karczag, Peters „Guru“ als charismatische Lehrerin zwischen Alexander-Technik und Ideokinese, hat zunächst ihr pfeffer- und salzfarbenes Langhaar mit kleinen Spangen hochgesteckt. Zum Finale erscheint sie mit coolem Kurzhaarschnitt. Auch eine Art Transformation, nach Peters Art. Dass Altwerden höchste Verfeinerung erlaubt, lässt sie im Fluss ihrer langen Glieder mit Delikatesse sichtbar werden. Ihr Duett mit Yoshiko, der Kutturdiplomatin zwischen Ramallah und Fukushima. gehört zu den Lichtblicken, auch wenn Eva bekennt: «Mein Tanz wird immer besser – nur die Ausdauer schwindet.» Ist Ausdauer Privileg der Jungen? Auch mit 50 gibt es noch heftig Schub. Bei Sasha Waltz erinnert vieles an ihre ersten explosiven Raumerkundungen im Kunsthaus Bethanien. Die Wildheit ist Teil ihrer Persönlichkeit, und obwohl ihre Stücke bis ins Kleinste durchstrukturiert und geformt sind, putzt sie jeden «Stil» bei sich selbst rüde weg. Es zeigt sich auch viel Zartes, wenn sie einen Silberschnipsel aus der Manege auf der Zungenspitze an die Zunge ihrer Tochter Sophia weitergibt.
Im Probenprozess mit Asaf Aharonson, Marcio Canabarro, Mor Demer und Paul Singh wird Peter Pleyer per Video auch auf Künstler fokussieren, die beim Kick Off leiblich nicht anwesend waren: Jennifer Monson, Stephanie Skura, Dancenoise, Lisa Kraus und Ishmael Houston-Jones. Letzterer ist Teil eines Geschichtsstrangs, der auf Berlins verschüttete Avantgarde zurückverweist (siehe auch S. 56). Jones hat 1972 bei Hellmut Gottschild – letzter Assistent Mary Wigmans – in Philadelphias Temple University studiert und in Group Motion getanzt, die 1962 von den Wigman Meisterschülern Gottschild, Brigitta Herrmann und Katharine Sehnert in Berlin gegründet wurde. Die Gruppe besteht verjüngt bis heute in Philadelphia. Dass die Tanzfabrik Gründer von Group Motion abstammen, wird heute oft vergessen – ein »undercurrent», der sichtbar gemacht werden wll, ehe die Asche der Zeit darüber weht.
«Visible Undercurrent» wieder in Berlin, Sophiensaele 13. – 16. November 2014
Erschienen in TANZ Magazin November 2014