Susch Magazine - Cranky Bodies Brochure © © Cranky Bodies a/company / Muzeum Susch 2023

2023 / Magazine Susch MS#4

To Ensemble – to Assemble – to Assemblage: Cranky Bodies a/company in immer weiter ausschweifenden Zusammenhängen

Essay von Jette Büchsenschütz

To Ensemble

An einem spätsommerlichen Abend in einem Berliner Park: Eine Gruppe von Performer*innen – ausgestattet mit teils flexiblen, teils starren Gegenständen, Textilien und anderen Materialien – bewegt sich zwischen Bäumen, Spaziergängern, Hunden, Picknickgruppen… Den Parkraum erkundend, bilden sich Duette, Trios, Gruppenformationen und trennen sich wieder. Es entsteht ein farbiges Spiel, das für kurze Momente alles und alle in Mitspieler*innen verwandelt. Nicht zufällig lautete die vereinbarte Spielregel „completing the form“. Auch eine unvermutet auftauchende Gruppe Teenager, die spontan eingeladen wird, Musik zu spielen, wird zum flüchtigen Mitspieler der improvisierten Performance. Der Parkraum selbst wird zu einer durchlässigen Versammlung in Bewegung, die nicht in der Materialität einzelner Körper existiert, sondern aus den Relationen hervorgeht, in die sie sich einlassen. Und ihre Akteure sind mannigfaltig: Menschen, Dinge, Pflanzen, Tiere, Wind, Licht, Geräusche … Ein harmonisches und dennoch unkontrollierbares Spannungsfeld entsteht zwischen der kurzfristigen Herstellung einer sozialen Ordnung und den Momenten ihres Zerfalls – und damit auch impliziter Hierarchien.

Praktiken und Strategien der Improvisation bilden den Kern der Arbeitsweise von Cranky Bodies a/company. Das Ensemble, das 2020 mitten in der Pandemie vom Berliner Tänzer und Choreografen Peter Pleyer und dem Bühnen- und Kostümbildner Michiel Keuper gegründet wurde, baut nicht nur auf dem langjährigen Zusammenwirken von Peters choreografischer Arbeit und Michiels skulpturaler Kompositionen auf, sondern ebenso auf dem bewährten Zusammenspiel der Tänzer*innen Asaf Aharonson, Caroline Neill Alexander, Aleksandra Borys, Márcio Kerber Canabarro, Oliver Connew, Mor Demer, Bjørn Ivan Ekemark/Ivanka Tramp, Eszter Gál, Anna Nowicka, Ka Rustler, Marysia Stokłosa, Alistair Watts und des Musikers Marc Lohr, die trotz unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsorte, trotz Krisen und Umbrüchen, seit Jahren immer wieder in wechselnden Konstellationen zusammenkommen. Gemeinsam entstanden seit 2014 Stücke wie Visible Undercurrent, Cranky Bodies Dance Reset (2017), das seit 2016 andauernde deutsch- polnische Austauschprojekt Moving the Mirror, das performative Filmprojekt Terrestrial Transit (2022) mit der Filmemacherin Stella Horta – und improvisierte Begegnungen im öffentlichen Raum wie die eingangs beschriebenen Szene und Workshops. Ob in Stolzenhagen/Ponderosa, in Polen oder in Berlin, das Entwickeln eines Stückes ist untrennbar mit dem Unterrichten und Co-Working verbunden – also mit ihrer Art, immer weitere Gemeinschaften zu bilden.

Die Praxis der a/company bezieht sich bewusst auf das choreografische Verständnis der Judson Church Gruppe der frühen 1960er Jahre, die Improvisation und Choreografie nicht mehr als Gegensatzpaar praktizierte. Aber das besondere Interesse der a/company gilt Arbeitsweisen, wie sie von Kollektiven wie Grand Union erprobt wurden, das 1970 aus ehemaligen Tänzer*innen der Judson Church hervorgegangen war und in einer Rückbesinnung auf improvisatorische Verfahren kollektives Choreografieren neu ausgetestet hat. Seine Erfahrungen wurden in den folgenden 20 Jahren weiterentwickelt und zu Methoden verdichtet, zum Beispiel von Barbara Dilley (Contemplative Dance Practice), Nina Martin (Ensemble Thinking), Nancy Stark Smith (The Underscore) oder Mary Overlie (The Six Viewpoints). Es sind Methoden, die sich mit den Herausforderungen befassen, wie im Modus des Improvisierens kollektiv kompositorische Entscheidungen getroffen werden können, das heißt, wie individuelle Entscheidungen sich so miteinander verflechten, dass die eigenen Handlungen sich mit den Handlungen der übrigen Gruppe fliessend verschränken.

Nina Martin begann Mitte der 1990er Jahre, Praktiken zu erarbeiten, die die Aufmerksamkeit der Tänzer*innen auf kompositorische Formen lenken und trainieren, zwischen den kompositorischen Verfahren im Solo, der Gruppe und der Contact Improvisation zu wechseln, um eine Komplexität, „that is always at the edge of chaos“ (Nina Martin), zu bewältigen, die oft in improvisierten Gruppentänzen entsteht. Ihre Ensemble Thinking Scores bestehen aus formalen Aufgaben (Tasks) – wie dem eingangs erwähnten Score „completing the form“ –, die das Bewusstsein für kompositorische Zusammenhänge schärfen.

Improvisation ist nicht nur eine situativ bestimmte Praxis, die grundsätzlich versucht, gegenwarts- und zukunftsoffen zu sein. Sie ist vor allem ein paradoxer Prozess, der – meistens indirekten – Regeln folgt, auf viel Übung beruht und auf vorhandene Strukturen zurückgreifen kann, aber genauso auf etwas spekuliert, was jenseits von technischer Verfügbarkeit liegt. Dieses Experimentieren mit einem zumindest partikular Unverfügbaren ist mit einem Konzept des kollektiven Handelns verknüpft, das nicht auf das planerische Verfertigen eines (künstlerischen) Produkts ausgerichtet ist, sondern auf den unwiederholbaren Prozess seiner kollektiven Her- stellung – eine „practice as performance“, wie Nina Martin es nennt.

Erst dadurch, dass Improvisation und Choreografie nicht mehr als binär codiertes Gegensatzpaar, sondern als komplementäres Beziehungsgeflecht, das sich selbst im Tanz hervorbringt, akzeptiert werden, kann die Vielstimmigkeit eines Ensembles sichtbar werden. Choreografieren wird zum spontanen, sich selbst organisierenden Ereignis der Gruppe, in der jegliches Machtpotenzial nicht in einem bestimmten Körperteil, einer einzelnen Person verweilt, sondern stets in Bewegung ist, wodurch idealerweise die Konstitution von hierarchischen Strukturen unmöglich wird. Und genau hierin liegt ein gesellschaftspolitisches Potenzial eines ensemble thinking: im Herstellen einer vielstimmigen Einstimmigkeit, deren Prozess sich im Moment des Aushandelns zeigt.

Die Basis für das gemeinsame Erforschen von Ensembleprozessen und ihrer oftmals krisenhaften Dynamiken bildet gerade die Heterogenität der Mitglieder von Cranky Bodies – die unterschiedliche Herkunft aus Ost- wie Westeuropa, Nord- und Südamerika, Neuseeland, Naher Osten …, ihre unterschiedliche Ausbildung und Generationenzugehörigkeit und die daraus entstehenden unterschiedlichen Perspektiven und Differenzen. Sie bilden eine Vielheit oder „Vielsamkeit“, wie es die Philosophin Bini Adamczak nennt, die sich in immer weiter ausschweifenden Zusammenhängen ausbreitet.

To Assemble

Ortswechsel: an einem spätsommerlichen Abend auf einem Platz vor der dominierenden Architektur des Jobcenters mitten im noch nicht vollständig gentrifizierten Berliner Wedding. Ein ähnliches Improvisationsspiel wie im Park, zwischen Tanz, Objekten und urbaner Umgebung. Vorgefundene Muster, wie die geometrischen Linien auf dem Pflaster, werden variiert, gebrochen, in andere tänzerische Formen und skulpturale Objekte verwandelt. Aber hier wirkt das ästhetische Spiel provozierend. Die Stimmung der vorbeihastenden Passant*innen, die unfreiwillig zum Publikum werden, schwankt zwischen Neugierde, Irritation und Unverständnis. Zunehmend erzeugt das improvisierende Spiel einen unkontrollierbaren emotionalisierenden Widerspruch zwischen dem Jobcenter, das den neokapitalistischen Arbeitsmarkt verkörpert, dessen Aussortierte, schwer Vermittelbare es verwaltet, und der künstlerischen Aufführung, einer zwecklosen, an keinem warenförmigen Produkt interessierten Komposition. Ihre flüchtigen Szenen, die sich nicht alltäglichen Erfahrungen zuordnen lassen, haben offensichtlich das Potenzial für Irritationen – und für eine mögliche Revision etablierten sozialen Verhaltens.

Wieso aber gerade jetzt das Insistieren auf dem gemeinsamen Improvisieren im Tanz – in einer Phase ökologischer, politischer und sozialer Krisenakkumulation? Weniger als individuelle Kontingenzbewältigungsstrategie, sondern als ein Erproben von Gemeinschaftsbildungen, von Kollektiven, die nicht von oben verordnet, sondern von unten gebraucht werden, deutet das improvisierende Experimentieren mit machtsensiblen Handlungs- und Kompositionsmöglichkeiten auf ein ethisch-politisches Potenzial hin, das über das rein Organisatorische hinausreicht. Indem es andere Arten des Versammelns, eine Umverteilung im Sinn einer Neu-perspektivierung auf die Bedürfnisse von Körpern einfordert; die bewusst oder unbewusst tradierte Regime von Disziplin und Kontrolle destabilisiert und in den spontanen Abweichungen und Unterbrechungen nach zwangloseren Arten der Gemeinschaftsbildung sucht.

Arten des Versammelns, die zugleich Räume sind, in denen sich Beziehungen herstellen können, die nicht das Nützlichkeitsprinzip der ökonomischen Produktionssphäre reproduzieren, vielmehr Beziehungen sind, die die Bedürftigkeit und wechselseitige Abhängigkeit alles Lebendigen anerkennen, fordert auch die Philosophin Eva von Redecker in ihrem Buch Revolutionen für das Leben. Darin unternimmt sie den Versuch, eine „Philosophie der neuen Protest- formen“ zu formulieren, die sich aber nicht im gewaltsam-revolutionären Umsturz, sondern in Akten der Selbstermächtigung einer Gemeinschaft der Teilenden und füreinander Sorgenden verwirklicht. Anstelle von Herrschaft postuliert sie etwas, das sie „wilde Verbundenheit“ nennt: eine Vergemeinschaftung, die nicht auf Verwertung und Entwertung beruht, sondern auf Bewahrung natürlicher und sozialer Ressourcen.

Auf ihre Weise – in beweglichen Gefügen oder Assemblagen, in denen Tanz, Bühnenbild, Kostüm, Musik, Sprache, Film und Ortsspezifik mit ihren unterschiedlichen Perspektiven, Schwierigkeiten und Fähigkeiten gleichberechtigte Akteure sind – orientiert sich die Arbeit Cranky Bodies an einer ähnlichen Utopie: a/company ist nicht ohne Grund auch als Verb zu lesen: to accompany.

To Assemblage

Ortswechsel: An einer Schnellstrasse im polnischen Szczecin liegt der zur Strasse hin geöffnete Aussenbereich des Theaters Kana. Die Gäste sitzen im Halbkreis um eine Rasenfläche verteilt, Kinder springen herum, hier und da holt sich jemand ein Bier. Dazwischen formieren sich skulpturale Gebilde – transitional sculptures – aus Treibholz, Stoffbahnen und verschiedenen Spiegelformen, ausbalanciert von den Tänzer*innen, sanft in Bewegung gehalten durch den Wind, und ergänzt von Materialien, die der Theater-Gärtner unermüdlich und völlig selbstverständlich herbeischafft. Ein transitorischer Spielraum entsteht, in dem belebte und unbelebte Körper so miteinander agieren, dass sich die alte Machtfrage, wer welche Bewegungen initiiert, gar nicht erst stellt. Jede Bewegung, sei es die eines menschlichen Körpers oder die des Materials, wirkt sich gleich intensiv auf den Raum und dessen Wahrnehmung aus. Eine Wahrnehmung, die durch die Spiegelungen in einen weiteren Taumel versetzt wird: Mal wird das Gespiegelte multipliziert und entgrenzt, mal wird es verzerrt und verfremdet. Der entscheidende, real entgrenzende Effekt ereignet sich zwischen Tänzer*innen und Zuschauenden, die sich zunehmend in dieses improvisierte Spiel hineingezogen fühlen. Neugierig und ohne Scheu werden sie – die Kinder voran – Teil der sich wandelnden Assemblage. Eine Atmosphäre der Solidarisierung entsteht, die an Bini Adamczaks Neudefinition des veralteten, weil besonders im realsozialistischen Ostblock inflationär gebrauchten Begriffs „Solidarität“ erinnert. Ihre „Lebenssphäre“ sei die einer „Vielsamkeit“, die sich in „immer wei- ter ausschweifenden Zusammenhängen ausbreitet“.

Szczecin war die vorletzte Station der choreografischen Reise Terrestrial Transit, die von Berlin über Ponderosa/Stolzenhagen nach Szczecin bis an die Ostsee reichte, eine langsam mäandernde Reise, die immer wieder in kleineren Ortschaften halt machte, um alte Beziehungen wiederaufzunehmen und neue Erfahrungen auszutauschen und in Form einer filmischen Tagebuch-Collage von der Filmemacherin Stella Horta festgehalten wurde. Das Konzept für dieses Projekt war hier mehr als nur ein formaler Score: Es geht um Fragen, die die unterschiedlichen künstlerischen Protestformen im ehemaligen Ostblock und dem Westen berühren. Um die diametral sich gegenüberstehenden Auffassungen von Individuum und Gesellschaft, vom Einzelnem und dem Kollektiv damals, heute, in Zukunft …

Und vielleicht nicht zuletzt darum, wie die Perspektive einer „Verwobenheitsseismografie“ (Eva von Redecker), also einer radikalen Ko-Präsenz von Simultanitäten, gerade im Tanz gewonnen werden kann. Und, in den Worten der Schriftstellerin Olga Tokarczuk, auf die sich Eva von Redeckers Wortschöpfung bezieht, darum, „[…] die ultimative Tatsache anzuerkennen, dass alle Dinge, die existieren, wechselseitig zu einem Ganzen verbunden sind, auch wenn uns die Zusammenhänge zwischen ihnen noch nicht bekannt sind. Alles zu sehen, bedeutet auch, eine ganz andere Art von Verantwortung für die Welt anzunehmen, denn es wird offensichtlich, dass jede Geste ,hier‘ mit einer Geste ,dort‘ verbunden ist[…].“** Ensemble dancemaking mit seinen Assemblagen und immer weiter ausschweifenden Assemblierungen ist ein Versuch mit dieser letztlich ökologischen Sicht auf die Welt.

** Olga Tokarczuk, Nobel Lecture 2018, https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2018/tokarczuk/lecture/

Jette Büchsenschütz arbeitet an der Schnittstelle von Text und Dramaturgie im Bereich Tanz und Performance – meistens in Berlin. Sie hat einen Hintergrund in Sinologie sowie Tanzwissenschaften und arbeitet seit 2021 mit Cranky Bodies a/company zusammen.

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