Moving the Mirror - Vorschau© Photo Bartosz Górka
CRANKY BODIES a/company

2016

Moving the Mirror
A Talk

Eine Unterhaltung zwischen Agnieszka Sosnowska (AS), Joanna Leśnierowska (JL) und Peter Pleyer (PP).
Atrium-Büro des Nowy Teatr, Warschau, 24.2.2017

JL Ich würde vorschlagen, dass wir zuerst ein paar Hintergrundinformationen zum Pro- jekt geben. Wie hat alles angefangen, was steckt dahinter?

PP Als ich 2014 Geld vom Hauptstadtkulturfonds bekommen habe, um das Stück „Visible Undercurrent“ zu machen, wurde mir klar, dass ich so Künstler*innen und Choreograph*innen in Berlin unterstützen könnte. Ich habe mich gefragt, mit welchem Projekt ich das am liebsten machen würde. Ich wollte gerne eine größere Gruppe deutsche oder in Berlin lebende Tänzer*innen*innen und polnische Tänzer*innen*innen zusammenbringen, um gemeinsam ein Stück zu erarbeiten.
Durch mein Engagement in der polnischen Tanzszene in den letzten 20 Jahren und meine Arbeit mit Joanna in Poznan in den letzten 7 Jahren war ich einer Reihe von Tänzer*innen begegnet, mit denen ich unbedingt zusammenarbeiten wollte. Diese Begegnungen bildeten den Ausgangspunkt für ein Gruppenstück, an dem sowohl Berliner als auch polnische Tänzer*innen beteiligt sind und das sich mit ihren Erfahrungen, Biografien und Geschichten in ihren lokalen, nationalen und internationalen Szenen beschäftigt.

JL Kannst du ein bisschen mehr über deine Beziehung zu Polen erzählen? Ich denke, dass ist der eigentliche Ausgangspunkt des Projekts.

AS Genau, warum gerade Deutschland und Polen, und nicht andere Länder?

PP (lacht) Ich glaube in meinen Arbeiten geht es sehr um Liebe und das ist ein Grund warum ich mit polnischen Tänzer*innen arbeiten möchte.
Das erste Mal wurde ich 1997 nach Polen eingeladen, von Hanna Strzemiecka, um mit der ungarische Tänzerin Eszter Gal zu unterrichten und unsere Arbeit beim Lublin Dance Theatre Meetings Festival zu präsentieren. In diesem Moment habe ich mich in polnischen Tanz und in die polnischen Tänzer*innen verliebt.

AS Wie war das Tanzen dort damals?

PP Durch diese Festivalstruktur gab es bereits ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Die Leute kannten und unterstützten sich gegenseitig, und ich sah viel tänzerisches Können. Die Choreografien fand ich weniger interessant, aber dafür wie die Künstler*innen lebten, wie sie ihr Herz dem Tanz schenkten – das war etwas, das mir immer besonders schön vorkam. Schon damals sah ich, dass die meisten Choreografen männlich waren, verwurzelt in sehr traditionelle Techniken und dass Entscheidungen sehr hierarchisch getroffen wurden: von dem Direktor des Ensembles oder des Festivals – das war sehr ungewohnt für mich und die Tanzwelt, in der ich mich bewegte. Ich habe tatsächlich ein Problem mit Machtstrukturen in Institutionen – einerseits geprägt durch meine eher strenge deutsche Erziehung und andererseits durch meine sehr offene Kunst-Ausbildung am European Dance Development Center (EDDC) in Arnheim in den Niederlanden. Ich kam gerade von meiner Tanzausbildung, wo ich vor allem somatische Praktiken und Philosophien über den Körper gelernt habe; sehr viel darüber wie man Choreographieren egalitärer macht, wie eine Demokratisierung von Raum und Körperteilen angestrebt werde kann, bei der gleichzeitig die Einzelstimmen der Gruppe oder des Ensembles hörbar werden. Diese Ideen sind mir bis heute sehr wichtig und auch während der Arbeit an „Moving the Mirror“ das zugrundeliegendePrinzip gewesen.
Der nächste entscheidende Punkt in meiner Beziehung zur polnischen Tanzszene hängt mit der deutschen Regierung zusammen, die ein paar Jahre lang einen polnisch-deutschen Kulturaustausch unterstützte. Das Büro Kopernikus und die Kuratorinnen Edyta Kosak und Sabine Gehm luden mich 2005 ein, als Moderator in einem choreografischen Austausch zwischen deutschen und polnischen Künstlern zu fungieren. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur wenige Deutsche in Polen, die polnischen Tanz gesehen hatten, daher haben sie mir diese Position angeboten. In dieser Zeit entstand die Arbeit um „Veronika Blumstein“.

AS Veronika Blumstein ist eine von dir kreierte Figur – eine fingierte Erzählung von einer imaginären gemeinsamen Geschichte zwischen Deutschland und Polen. Ist sie entstanden, weil du selber keine Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ländern finden konntest?

PP Ja, tatsächlich, am zweiten Tag dieses Treffens in Jagniatkow haben wir uns gesagt: „Lass uns nach Hause gehen. Wir sind von unterschiedlichen Planeten. Wir kommen aus verschiedenen Traditionen, mit verschiedenen Weltanschauungen über Körper und Tanz.“ Aber dann in der Nacht, bei Wodka und Bier, wurde die Figur der Veronika geboren.

JL Die personifizierte Gemeinsamkeit.

PP Eine fiktive Choreografin, die mehr als eine Tradition verinnerlicht, und in deren Fiktion unsere Fantasie ungehindert aufblühen konnte. Sie war wie ein Katalysator für Ideen und Begegnungen, Diskussionen, Kollaborationen und Rekonstruktionen ihrer imaginären Arbeit.
Das weckte auch das Interesse anderer Kurator*innen: Es gab ein ganzes Festival in Veronikas Namen, „Moving exiles“ in Bremen und das 2007 lud Kampnagel Veronika ein um ihr neues Choreografische Zentrum K3 zu eröffnen.

JL Welches gerade sein 10-jähriges Bestehen feiert.

PP Das war wirklich ziemlich unglaublich. Und mit der Rekonstruktion ihres Werks „Dancing Queen meets Walkmanwords“ wurde ich 2009 zum Body/Mind Festival nach Warschau eingeladen. Dort habe ich, während einer Podiumsdiskussion mit Leiter*innen osteuropäischer Tanzhäuser, Joanna zum ersten Mal getroffen. Für mich markierte das eine einscheidende Wendung hin zu weiblicher Leitung: Alle Direktor*innen dieser Tanzhäuser waren Frauen – eine Veränderung, um andere Stimmen und Kollaborationen zu ermöglichen. Was ich außerdem noch von dieser Podiumsdiskussion erinnere, ist, dass all diese Frauen unterschiedliche Geldquellen für Ihre Tanzhäuser hatten. Eine von ihnen hatte ein sehr gutes Verhältnis zum Bürgermeister ihrer Stadt und er gab ihr Geld, eine andere zum Kultusministerium, die nächste organisierte ein Festival in Canada, für das sie immer so haushaltet, dass sie zusätzlich mit einem Zentrum in Zagreb kollaborieren kann, und du – Joanna – hattest die private Gunst von Grażyna Kulczyk und ihrer Art Stations Foundation.
Der nächste Schritt war die Arbeit mit dem „The Solo Project“, für das du mich 2010 als Coach nach Posen eingeladen hast. Meine damalige Position als Kurator des Tanztage Berlin in den Sophiensælen von 2008-2014 ermöglichte es mir, mit der Hilfe des Polnischen Instituts Berlin jedes Jahr Stücke aus dem “Solo Project“ einzuladen und so die Verbindung zwischen der polnischen und Berliner Tanzszene zu stärken.
Als ich Anna Nowicka und Aleksandra Borys kennenlernte entstand eine enge Verbindung, die wir bis heute pflegen.
Die andere Verbindung ist mein Unterricht an der „Alternative Dance Academy“, Teil des Stary Brewer Nowy Taniec Programmes, wo ich 2015 Pawel Sakowicz traf. Ich habe alle in Berlin lebenden Tänzer*innen des Projektes in Unterrichtssituationen kennengelernt: OIlie Connew während „Smash“ in Berlin, Caroline Alexander durch „P.O.R.C.H“ in Ponderosa und Ivan Ekemark durch meine Gastprofessur am HZT Berlin.

JL Die einzige Ausnahme ist Marysia Stoklosa, die du in Posen getroffen hast.

PP Ja, Marysia kenne ich schon länger, weil sie mit Jeremy Wade in Berlin gearbeitet hat und ich ihren Auftritt 2006 in den Sophiensælen sah. Aber richtig kennengelernt habe ich sie erst in ihrer eigenen Produktion „The Right Hemisphere“, die von der Art Stations Foundation koproduziert wurde.

JL Ich habe dich ihr als Dramaturgen empfohlen.

PP Ja, mit dieser Kollaboration begann ein sehr fruchtbarer Dialog, der bis heute anhält. Und sie führte dazu, dass ich als Dramaturg für dieses verrückte Chopin Projekt eingeladen wurde, das Polen 2010 während der Expo in Shanghai repräsentierte, mit 12 Tänzer*innen und 70 Musiker*innen.
So betrachtet ist „Moving the Mirror“ der Versuch, sich durch die Generationenabfolge von Tänzer*innen in Polen zu bewegen: Maria, Anna und Aleksandra. Der „jüngste“ ist Pawel.

JL Was ich von Anfang an interessant fand, war, dass du, anstatt mit verschiedenen polnischen Künstler*innen an deiner eigenen Geschichte mit Polen zu arbeiten, wirklich ein Projekt wolltest, das die Berliner Szene mit der polnischen Szene verbindet, da es immer noch keine direkten Arbeitsverbindungen zwischen den beiden Gemeinschaften gibt, besonders nachdem du das Tanztage Festival verlassen hast. Könntest du uns ein bisschen mehr über die Idee hinter „Moving the Mirror“ erzählen? Für mich ist es ein Projekt, das versucht, durch die Augen des Anderen über Geschichte und Gemeinschaft reflektieren. Es hätte auch einfach nur ein Projekt sein können, in dem du mit polnischen Tänzer*innen arbeitest, aber das sehr wichtige Element der Berliner Gemeinschaft ist auch involviert. Woher kommt das Bedürfnis Menschen zusammenzubringen, einen Austausch zu ermöglichen? Liegt es an der irritierenden Tatsache, dass es vorher gar keine Beziehung gab?

PP Menschen zusammen zu bringen, die Rolle des Vermittlers zu sein, liegt mir sehr nahe. Ich liebe es Menschen zusammen zu bringen und Rahmenbedingungen für diese Begegnungen zu schaffen. Vielleicht ist das eine Verallgemeinerung, aber man könnte sagen, dass zeitgenössischer Tanz international ist. Die Sprache und die Kraft des Körpers sind nicht von nationalen Sprachen abhängig. Unabhängig von nationalen Sprachen und deren territorialen Abgrenzungen geht es im Tanz eher darum Raum für Körper zu schaffen. Dabei ist es für alle möglich, an unterschiedlichen Orten, Ländern und nationalen Bedingungen zusammenzuarbeiten. Das ist ein großer Vorteil, den wir in unserer Argumentation und Engagement für diese Kunstform Tanz nutzen können.

AS Könntest du dir vorstellen, dass diese Begegnungen auch über etwas anderes als Improvisation hätten aufgebaut werden können? Es ist richtig, dass Improvisation als Methode in „Moving the Mirror“ sehr wichtig ist, oder?

PP Ja, ich denke, die Begegnungen könnten auch an anderen Orten und mit anderen Methoden stattfinden. Aber die Methoden, die wir bei der Entstehung von „Moving the Mirror“ angewandt haben, allein auf Improvisation zu reduzieren, wäre zu allgemein.
Es liegt eine Menge Grundlagenarbeit in den Methoden der Improvisation, der Komposition und der Wahrnehmung und Unterstützung von Entscheidungen zugrunde. Und diese Methoden sind sehr spezifisch: Eva Karczags „Anatomical release“, Nina Martins „Ensemble Thinking“, Mary Overlies „Viewpoint theory”, Stephanie Skuras „Politics of Method”, Nancy Stark Smiths „underscore“, Lisa Nelsons Arbeit über Wahrnehmung, Contact Improvisation und Barbara Dilleys „Contemplative Dance Practice”. Diese machten es den Tänzer*innen und Michiel Keupers transitional sculptures einfacher, sich zu begegnen.
Contact-Improvisation ist eine der Techniken, die ich sehr oft benutze; nicht nur als physische Form, sondern auch als eine Möglichkeit, Zusammenarbeit zu verstehen, die Bedeutung von Raum und die Abhängigkeit voneinander zu verstehen, um etwas zu schaffen, das sich von dem unterscheidet, was man allein hätte schaffen kann.
Berührung ist ein sehr simples Mittel für Begegnungen. Berührung kann sehr schnell miteinander vertraut machen, nicht nur mithilfe von Contact-Improvisation, sondern auch mit der sehr spezifischen Körperarbeit von Eva Karczag (anatomical release), die ich verwende, wo Möglichkeiten der Bewegung und Artikulation durch Berührung eröffnet werden. In ihrem Text “Politics of Method” drückt Stephanie Skura ein Bedürfnis nach starken, unabhängigen Tänzer*innen aus – Performer*innen, die ihr eigenes Leben haben – ein inneres und äußeres Leben haben, sich zu einander, und in Relation zum Publikum auszudrücken.
Ollie Connew, einer der in Berlin lebenden Tänzer des Projekts, sagte, dass es eine unglaubliche Erfahrung war, das Publikum durch dieses Verständnis in die Performance einzubeziehen. Wir sind hier zusammen in diesem Raum, wir machen das gemeinsam. Man ist Zeuge dessen, was in dem Moment geschieht, in dem es geschieht. Es ist kein vorgefertigtes Stück, das konsumiert wird – es ist Partizipation, Kollaboration, genau wie bei der Contact-Improvisation: wir stützen uns auf das Publikum und das Publikum kann sich an uns anlehnen, metaphorisch gesagt, wir könnten es nicht ohne den anderen machen, nur gemeinsam.

JL Ich weiß, dass Improvisation eine deiner großen Lieben und Werkzeuge ist, aber ein anderer Teil deiner Arbeit ist Geschichte aber ein anderer Teil deiner Arbeit ist die Geschichte und die Traditionslinien nicht nur improvisatorischer, sondern auch choreografischer Praktiken des gesamten 20. Jahrhunderts. Hast du deine eigene Methodik, mit der du arbeitest? Wie beschreibst du deine Auseinandersetzung mit Geschichte in deinen choreographischen Praktiken, vor allem in „Moving the Mirror“?

PP Vorwiegend über andere Medien. Meistens stelle ich eine Vielfalt an Büchern, Videos, DVDs, Artikeln, Magazinen und online Quellen zur Verfügung. Nachdem ich diese manchmal überwältigende Menge an Material vorgestellt habe, schaue ich was mit der Gruppe oder den einzelnen Darsteller*innen im Einklang steht, um dann tiefer zu graben – durch spezifische Beispiele, Aufgaben und Scores; ich biete eine große Auswahl an, sodass sich jeder nach seinem Interesse etwas aussuchen kann. Dabei schreibe ihnen nie vor, was genau sie machen sollen, aber mache Andeutungen zu Menschen und Methoden mit denen ich durch meine Ausbildung am European Dance Development Center in Arnhem (NL) in den frühen Neunzigern in Kontakt kam.

JL Es ist sehr interessant zu sehen, wie lebendig Geschichte in deiner Arbeit ist. Wir haben eine Tendenz in der Kunst, im Umgang mit Geschichte ein große Distanz zu der Zeitperiode mit der wir arbeiten und die wir recherchieren, eingehalten wird. Wir scheinen dazu zu neigen Geschichte den Gespenstern zu überlassen.
An deiner Herangehensweise schätze ich, dass du ein Verständnis dafür mitbringst, dass Geschichte jetzt ist; dass wir auf den Schultern unserer Kolleg*innen stehen und dass sich Wissen in unser kollektives Bewusstsein als Künstler und Publikum aufeinander schichtet. Du bringst es als ein lebendiges Erbe zurück. Ich finde das sehr wichtig, vor allem in der Zusammenarbeit mit jungen Künstler*innen In Polen leiden wir an einer mangelnden Beschreibung unserer Tanzgeschichte, die ja bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurück reicht, aber wir wissen einfach nichts darüber und niemand hat etwas darüber geschrieben. Es gibt so viele schwarze Flecken in der Geschichte polnischen Tanzes. Ich finde es sehr wichtig, dass wir unsere jüngste Geschichte ernst nehmen und sicherstellen, dass sie nicht verschwindet und das Schicksal unserer Vorfahren teilt. Zwischen den Kriegen, und in der Generation vor 1989 wurde bereits interessante Arbeit geleistet, aber sie wurde hinter dem Eisernen Vorhang vergessen. Wenn junge Künstler*innen und Kurator*innen die Bühne betreten ist ihnen das oft nicht bewusst und sie haben weder die Mittel noch den Wunsch, diese Informationen zu bekommen. Meiner Meinung nach, ist es essentiell zu verstehen, dass Geschichte lebendig ist.

PP Was hier mitschwingt, ist eine Bewusstsein davon, wie wichtig es ist vergängliches Material zu dokumentieren. In „Moving the Mirror“ habe ich visuelle Kunst in die „contemplative dance practices“ als ein Kompositions-Werkzeug einbezogen. Es war das erste Mal, dass ich einen visuellen Künstler, Michiel Keuper, einlud mit uns zu meditieren, sich mit uns aufzuwärmen und transitional sculptures anzufertigen, die in verschiedenen Momenten des Stückes auftauchen, aber dann auch wieder verschwinden – genau wie der Tanz. Das Dokumentationsergebnis sind die vielen Fotos vom Prozess und den Aufführungen. Jetzt kann ich ein Foto von „Moving the Mirror“ nehmen und im Detail den Prozess, die Methoden, Beziehungen und sogar das, was uns zu einem einzelnen Moment geführt hat, beschreiben.
Ich denke, dass das Arbeiten mit Fotographie und visueller Kunst in den Aufführungen ein wichtiger Teil von „Moving the Mirror“ war, vor allem in einem Umfeld der bildenden Künste selber, dem Center for Contemporary Art (CCA) in Warschau.

AS Um noch einmal zum Thema Geschichte zurück zu kommen: Sehr bemerkenswert und gegenwärtig in dem Stück war eine Geste der Gemeinschaftsbildung, die nicht unbedingt eine nationale Gemeinschaft ist. In dem Text, der auf der Bühne von den polnischen Tänzer*innen gesprochen wurde, war dies sehr klar. Man kann kaum sagen dass sie polnisch sind, basierend auf ihrer nationalen Identität. Keiner von ihnen hat hier in Polen Tanz studiert, und polnische Tanzgeschichte ist kein Referenzpunkt für sie. Das Zusammentreffen mit den anderen Darsteller*innen passiert auf einem anderen Level, da auch keiner von den in Berlin lebenden Tänzer*innen, deutsch ist; sie sind aus Schweden, Neuseeland, den USA und den Niederlanden. Wie sprichst du hier den Begriff der Geschichte an?

JL Die Geschichte des Körpers.

PP Ich bin so etwas wie ein Spezialist für die Geschichte, die mit dem Judson Dance Theater anfing und darauf folgte, und die bis heute zum Kanon des zeitgenössischen Tanzes gehört, auch in Polen, durch das Remix Programm, das die Aufmerksamkeit auf Merce Cunningham, Carolee Schneemann, Anna Halprin, Deborah Hay und Yvonne Rainer lenkte. In meiner Ausbildung habe ich mit Künstlern getanzt und studiert, die diese Geschichte hinter sich haben, eine Periode, die ich die “Post-Judson-Avandgarde” nenne. Ich habe diese Periode sehr ausführlich für meine Gruppenarbeit Visible Undercurrent 2014 recherchiert. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf all die Methoden und Körperpraktiken lenken, die diese Tänzer*innen und Choreograph*innen zu dieser Zeit entworfen haben, die aber nur in sehr wenigen Geschichtsbüchern dokumentiert sind. Hier kommt meine Leidenschaft für das Sammeln von Büchern und Zeitschriften ins Spiel, insbesondere die Zeitschrift “Contact Quarterly” (von 1975 bis heute) und die Zeitschrift “Writings n Dance” aus Australien. Die meisten dieser Künstler*innen leben noch, es ist also eine sehr lebendige Geschichte, und tatsächlich hatte ich nach dem Projekt eine sehr nette E-Mail-Konversation mit Eva Karczag, Nina Martin, Stephanie Skura, Nancy Stark Smith, Lisa Nelson und Barbara Dilley, in der ich ihnen berichtete, dass wir sehr erfolgreich mit ihren Methoden gearbeitet hatten und dass sie alle sehr glücklich darüber waren, dass ihre Arbeit weiterhin Tänzer*innen und Choreograf*innen inspiriert.

JL Den Großteil des Cast von „Moving the Mirror“ hattest du bereits vorher in verschiedenen Workshops und Schulen unterrichtet, es gab also bereits ein gemeinsames Verständnis.

AS War dies ein Problem für dich, dass du der „ältere weise Mann“ in „Moving the Mirror“ warst? Ich erinnere mich, dass du darüber reflektiert hast….

PP Es gibt zwei wichtige Aspekte, einer davon ist der Lehr-Aspekt meiner Arbeit. Eine Journalistin schrieb über mich und meine Arbeit, dass sie einen „pädagogischen Eros“ sieht, ein bestimmtes Bedürfnis und eine Freude am Unterrichten. Daraus entsteht eine natürliche Autorität, die Menschen in mir sehen, ohne autoritär zu sein und von oben herab zu unterrichten, es ist eher ein horizontales Annähern an die Praxis.

JL Ja, ich glaube deine Herangehensweise an das Unterrichten basiert eher auf Beteiligung, auf Ranciere’s Idee des unwissenden Lehrmeisters und nicht auf der Vermittlung von Methoden und Fähigkeiten der alten Schule. Ich sehe darin deine Fürsorge, deine Faszination und deine Liebe dafür, die Entwicklung deiner Schüler zu unterstützen, auch dadurch, dass du sie in deine künstlerische Arbeit einbeziehst. Die Art wie du unterrichtest schafft eine gewisse Band der gegenseitigen Liebe und des gegenseitigen Respekts. Meiner Meinung macht dich das eher zu einer Vaterfigur als zu einer Lehrerfigur. Ich sehe das jedes Mal wenn du auf der Bühne mit deinen Tänzer*innen zusammen kommst.

AS Wie siehst du die Figur eines Anleitenden in dieser Situation?

PP In einigen der Gespräche, die wir nach den Auftritten in Wroclaw hatten, “Du hast uns die Freiheit gegeben, als Performer zu tun, was wir wollen, aber es war immer noch sehr stark dein Stück und deine Anregung”. Ich denke, das ist wahr. Ich habe das Projekt initiiert, habe meine Interessen und Informationen eingebracht, die Scores, diese besondere Art der Berührung und Intimität, die Art, sich gegenseitig wahrzunehmen und in den Aufführungen die offene Beziehung und Haltung gegenüber dem Publikum. All das ist ganz klar meine Welt. Aber alle Darsteller*innen sagten auch, sie hätten nie das Gefühl gehabt, blind meinen Anweisungen zu folgen.

AS Das entspricht der Erfahrung die ich gemacht habe, als ich deine Arbeit zum ersten Mal gesehen habe, das war „Visible Undercurrent“ in Berlin. Ich erinnere mich daran, dass ich an dem Wochenende zwei sehr unterschiedliche Stück gesehen habe. Das erste war von Kat Valastur, gekennzeichnet durch einen sehr präzisen Bewegungsscore. Und dann dein Stück am nächsten Tag, was mehr oder weniger das Gegenteil davon war – aufbauend auf der Basis horizontaler Strukturen. Wir würde es fast demokratisch nennen.

JL Ich denke das Peters Verständnis von kollektiver Arbeit uns eine Alternative bieten kann wie wir gemeinsam arbeiten und zusammen sein können – vor allem in der heutigen Zeiten. Aufgrund der infrastrukturellen und finanziellen Probleme der polnischen Szene und darüber hinaus haben die Künstler jahrelang ihre Solo-Stücke erarbeitet und sich sehr um ihre eigene Sprache und ihre eigene Handschrift bemüht.
Jetzt erleben wir einen Moment, in dem sich mehr und mehr Menschen darauf einstellen, zusammen zu sein – nicht nur zusammen zu arbeiten, sondern sich auch auf einer persönlichen Ebene zu unterstützen und für bessere Bedingungen für die gesamte Gemeinschaft und die Kunstform zu kämpfen. Ich sehe in der Tat eine wichtige soziale Verantwortung unserer Kunstform gegenüber unserer Gemeinschaft und Gesellschaft. Das ist gerade jetzt in Polen ein besonders wichtiges Thema. In den letzten zehn Jahren konnten wir (zumindest in Poznan, im Luxus unserer Studiosituation) ein erstaunliches Laboratorium von Praktiken entwickeln, die es den Menschen ermöglichten, zusammen zu sein, einander besser zu verstehen, zu teilen und sich durch somatische Ansätze und Improvisationstechniken auszutauschen. Wir haben Wissen generiert, das uns nicht nur hilft, Kunst zu schaffen, sondern das uns auch hilft zu leben. Und das ist jetzt der Moment, in dem wir zu einer so genannten Überprüfung aufrufen, wie sehr wir an das glauben, was wir predigen.
Peter, du hast mit Eszter Gal eine erstaunliche Performance mit dem Titel „Practice what you Preach“ erarbeitet. Ich liebe diesen Titel, denn er drückt genau das aus, was jetzt notwendig ist. Wenn wir wirklich an das glauben, was wir während des letzten Jahrzehnts entwickelt haben – Fähigkeiten, auf alternative Weise mit unseren Körpern und unserem Geist zu arbeiten – ist es jetzt mehr als je zuvor an der Zeit, diese in unseren Gemeinschaften und mit der ganzen Gesellschaft zu teilen. Deshalb finde ich „Moving the Mirror“ und allgemein deine Praktiken und deine Gegenwart in Polen so wichtig. Abgesehen von der Begeisterung auf einer ästhetischen Ebene und der Stärke des künstlerischen Vorhabens, hat das Projekt außerdem die Bedeutung, einen Raum der Begegnung und des Austauschs zu bieten und alternative Szenarien für das Zusammenleben in schwierigen Zeiten zu entwerfen. Ich glaube, auch wenn die Künstler es nicht gerne hören, dass dies jetzt eine Art Pflicht für uns ist: Wir müssen uns für die letzten Jahre revanchieren, in denen wir so privilegiert waren und die Chance hatten, uns und unsere Praktiken zu entwickeln – jetzt müssen wir den Virus dieser Praktiken in unserer Gesellschaft verbreiten. Ich glaube, dass selbst wenn nur ein etwas größerer Prozentsatz von uns diesen somatischen, improvisatorischen, kontemplativen Ansatz praktizieren würde, unsere globale Energie tatsächlich anders wäre und dass wir vielleicht nicht mit solchen nationalistischen Kräften auf der ganzen Welt konfrontiert wären, wie wir es jetzt sind. Und ich weiß, es klingt ein bisschen naiv, wenn ich so spreche, aber ich glaube fest daran, dass jetzt die Zeit ist, naiv zu sein, für einander, gerade wenn die Hoffnung zu schwinden scheint.
PP Agnieszka, ich erinnere mich noch an unsere allererste Unterhaltung in einem Café in Berlin nachdem du „Visible Undercurrent“ in den Sophiensælen gesehen hattest. Ich habe zum ersten Mal deutlich zum Ausdruck gebracht, dass “Liebe” ein Motor in meiner Arbeit ist, und ich hatte das gleiche Gefühl, dass dies furchtbar naiv und esoterisch ist.

AS Es war auch das erste Mal, dass ich jemanden über „Liebe“ als Methode zum Entwerfen einer Choreografie habe reden höre. Es geht nicht nur um Liebe zwischen den Darsteller*innen, sondern auch darum was mit dem Publikum passiert wenn es diese Grenze zwischen ihnen und der Bühne nicht gibt. Das ist für mich in deinen Stücken unglaublich überzeugend. Liebe macht wirklich Sinn, weil ich gesehen habe wie es funktioniert. Es sind nicht nur Worte, es ist die Veränderung, die es hervorbringt.

PP Meistens wenn Menschen über Liebe und Weltfrieden reden ….

JL Wenn sie es predigen, aber nicht praktizieren!

PP Man hat das Gefühl, dass es von der Kunst ablenkt, dass es “gefühlsduselig” ist, “rührselig” oder dass es “schön für sie, aber nicht für das Publikum” ist. Ich hoffe, dass das bei meiner Arbeit anders ist, bei der ich von mir selbst und von den Darsteller*innen verlange, keine künstlerischen Kompromisse einzugehen, sondern eine künstlerische Integrität zu bewahren.

AS Genau, und Liebe ist nicht die einzige Komponente in der Arbeit.

PP Nein, und für mich schließt das die künstlerische Integrität nicht aus. Die Therapie, die Spiritualität und die Heilung sind Nebenprodukte, ebenso wie die Basis. Für mich wird die Kunst dadurch nicht geschmälert

JL Liebe ist also die Lösung?

PP Vielleicht, vor allem in Zeiten wie diesen, es ist wahr, aber es ist immer noch ein schwacher Zweig …

JL …empfindlich, zerbrechlich…

PP Andererseits, positionieren sich viele der rechtsorientierten und nationalistischen Gegenreaktionen gegen das große Anwachsen anderer freiheitlicher Überzeugungen; wie beispielsweise Lachen und Liebe, die in den letzten 30, 40, 50 Jahren, seit der feministischen Bewegung und der sexuellen Revolution, stark artikuliert werden. Ich sehe, dass persönliche Freiheiten zunehmen und viel mehr Menschen ihre Meinung äußern. Dann werden die Verteidigungsmechanismen der Rechten lauter und stärker, fast wie ein letztes Aufbäumen auf ihre schwachen Hinterbeine; ein feiger Angriff aller alten weißen Männer, die versuchen, die kritische Masse von Feminist*innen, Queers, People of Color, Künstler*innen, Armen, allen, die für mehr Rechte und Freiheit kämpfen, einzudämmen.

JL Das ist ein weiteres wichtiges Element von “Mov- ing the Mirror”: der Hinweis darauf, dass die jüngere Geschichte des Tanzes und der Choreografie hauptsächlich von weiblichen und queeren Künstlern geschrieben wurde. Das ist ein Thema, das hier in Polen noch nicht offen diskutiert worden ist. In internationalen Diskursen über die Entwicklung der Choreografie ist es natürlich viel präsenter. Könntest du dazu noch etwas sagen, wie du es geschafft hast, dieses Thema in den Aufführungen, die wir in Warschau und Breslau hatten, zu kommunizieren?

PP Dazu muss ich zu meiner ersten Erfahrung der Aufführung von „Practice What You Preach in Russland 1998 zurück gehen, bei der wir während des Stückes dem Publikum sagten: „Das sind ein Mann und eine Frau, die zusammen tanzen und die Bilder, die Sie sehen, könnten romantisch sein, aber wir möchten Ihnen mitteilen, dass Eszter eine heterosexuelle Frau und Peter ein schwuler Mann ist“, und dann zu hören, wie sich die Wahrnehmung des Publikums verändert, sich Möglichkeiten eröffnen, das Stück unterschiedlich zu sehen, von der Erzählung weg und hin zum Raum, dem Timing, dem Physischen, der Energie und anderen Sensationen, die einen bewegen, zu schauen.
Seit dem Beginn meines künstlerischen Lebens, meines Unterrichtens und Performens, ist es Teil meiner Arbeit dem Publikum zu vermitteln, wer ich bin, wer wir sind. Die Persönlichkeiten der Tänzer*innen ist eine wichtige Komponente meiner Arbeit, dies in jedem Prozess und jedem Stück auszudrücken ist wichtig für mich, sodass intime Momente, ohne dass man sich davor verstecken muss wer man ist, entstehen können. Ich schaue oft durch diese Gender- oder Identitäts-Brillen, um einen Schnappschuss zu bekommen, um die Situation analysieren zu können. Beispielsweise, hier und jetzt: wer ist zu dieser Tanzaufführung in Warschau eingeladen? Frauen und schwule Männer. Und Joanna, wer war zu deinem letzten Malta Festival Tanzprogramm im Sommer eingeladen?

JL Frauen und schwule Männer.

PP Ich denke, es gibt immer noch sehr viel was darüber gesagt werden muss. In „Moving the Mirror“, spielen wir die Musik von Karol Szymanowsko während Pawel über diesen schwulen polnischen Komponisten spricht, der für seine patriotische Musik als wichtige kulturelle Figur gefeiert wurde.

JL Mit einem Schatten über seinem privaten Leben.

PP In den 1920ern war das nicht verborgen. Er lebte sehr offen in seiner Stadt Zakopane.

JL Wenn ich über das Gesamtprojekt nachdenke und mir die Aufführungen in Warschau und Wroclaw anschaue, stelle ich mir vor das „Moving the Mirror“ eine performative Serie werden könnte, wie ein photographischer Essay, wo Photograf*innen einer Person oder einer Gruppe von Personen10, 20, 50 Jahre lang folgen. Diese Herangehensweise würde es uns ermöglichen zu beobachten, wie sich das Leben und die Konditionen um uns herum verändern und wie uns dies als Menschen und Künstler*innen beeinflusst.
Wie wäre es wenn sich das Team von „Moving the Mirror“ ab jetzt jedes Jahr trifft? Um weiterhin unsere persönlichen Geschichten zu teilen, all diese kleinen Erzählungen, die Teil einer größeren Geschichte sind; die Konditionen des alternden Körpers genauso wie die, die durch die Konditionen in Kunst und Politik, und andere Abhängigkeiten und Beziehungen, entstehen. Es wäre so unfassbar zu sehen was über einen längeren Zeitraum mit uns passiert: wie sich die Situationen im zeitgenössischen Tanz verändern oder ob sie dies nicht tun … Wie sich diese Spiegel ändern, wie sie sich verzerren, über die Jahre verschmutzen, und wie wir uns helfen können, sie zu säubern …
Es wäre ein Traum von mir, das Projekt so fortzuführen.

PP Wow, du eröffnest eine spannende Vision. Und wie wir hier sitzen im Atrium-Büro des Nowy Theater in Warschau mit so viel Raum und Luft um uns, glaube ich sogar dass wir für etwas so grossartiges finanzielle Unterstützung bekommen könnten.

JL Meiner Meinung nach hat das Projekt großes Potential und den Wert nicht nur etwas einmaliges zu werde. Als du die Tür zum Publikum geöffnet hast, war es für mich offensichtlich, dass dies etwas Kontinuierliches ist, mit einer Struktur, einer Bindung, aber das dessen Sinn und Zweck in dauerndem Wandel und Transformation liegt, genau wie die Energien der Menschen im Raum, einschließlich des Publikums.

PP Stell dir vor wie fantastisch es wäre in 10 Jahren zurück zu schauen …

JL Ja, ein choreographisches Essay…

PP… und zu sehen, was mit Ivan und Caroline passiert ist …

JL… oder Ollie … und unseren polnischen Künstler*innen …

PP… jedem einzelnen.

JL Wo werden wir sein? Immer noch in Berlin und Polen?
(Alle atmen tief ein)

PP Wow!

JL Amen